Querdenker und Revolutionär


Späte Ehre für einen umtriebigen, querdenkenden Wissenschaftler: Der in Bugk lebende Philosoph Dr. Rainer Thiel vom Netz innovativer Bürgerinnen und Bürger (NiBB) einen Preis für sein Lebenswerk in der Kategorie „Erfindung, Bildung und Innovationen“. Der Lokalanzeiger traf den Mann, der zu DDR-Zeiten gemeinsam mit Gleichgesinnten Erfinderschulen aus der Taufe hob.
Der Hausherr entschuldigt sich gleich zu Beginn. In seinem Arbeitszimmer türmen sich Zeitungen, Notizzettel und Aktenordner. „Mir fehlt die Zeit, alles einmal zu sortieren“, sagt der 87-Jährige. In einer Ecke flackert der Monitor seines Computers. Durch das Fenster seines unscheinbaren Hauses am Waldrand in Bugk blickt man auf weite Wiesen, ein kleines Fließ und abends auf einen imposanten Sternenhimmel. Zwischen der ganzen Zettelwirtschaft hebt sich ein Strauß bunter Lilien hervor. Die Blumen bekam Thiel wenige Tage zuvor – im Rahmen einer Preisverleihung im Storkower Eine-Welt-Laden, bei der das Lebenswerk des Wissenschaftlers gewürdigt wurde.

Rainer Thiel ist ein freundlicher Mann, der von sich sagt, dass er inzwischen hochbetagt sei. Hier und da ärgern ihn Wehwehchen. Aber sein bis heute nicht Ende wollendes Interesse an gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen hält ihn geistig fit. Umtriebig ist nur eines von vielen Attributen, das ohne Zweifel auf Thiel zutrifft. Man mag kaum glauben, als er sagt: „Im Leben bin ich oft rausgeschmissen und getreten worden.“

Das Leben von Rainer Thiel liefert den Stoff für ein Buch. „Neugier, Liebe, Revolution“ hat er seine Autobiografie überschrieben, die inzwischen in der zweiten Auflage erschienen ist. Es ist ein Leben in drei deutschen Systemen: Nationalsozialismus, DDR und seit fast drei Jahrzehnten Bundesrepublik. Thiel erlebte als Jugendlicher Bombennächte in Chemnitz, machte Abitur, arbeitete im Steinbruch und stieß irgendwann aus politisch-gesellschaftlichem Interesse zur SED und zur Freien Deutschen Jugend (FDJ). Schnell war klar, dass er studieren wollte: Mathematik und Philosophie. In den Semesterferien malochte er als Bauarbeiter in der jungen DDR. Er verfolgte mit großer Neugier die Entwicklung der unter dem Einfluss der Sowjetunion stehenden sozialistischen Republik – stets kritisch, oft von der Norm abweichend. Die Lehren von Marx und Engels interpretierte er auf seine Weise, was nicht gut bei den Linientreuen ankam. Schon in den 1950er-Jahren brachte ihm das den Rauswurf aus FDJ und SED. Einen Querdenker und Revolutionär, der offen die Zustände in der DDR anspricht, wollte niemand in seinen Reihen haben. Davon unbeeindruckt beendete Thiel sein Philosophiestudium, freundete sich mit Mathematikern und Physikern an. In den 1960er-Jahren verspürte er eine Aufbruchstimmung in der DDR, während im Westen die Studenten auf die Straße gingen. Thiel ging zu Ideenkonferenzen von Ingenieuren, die an Innovationen und Erfindungen interessiert waren. Er besuchte Betriebe, kam mit den Leuten ins Gespräch und stellte fest, dass es viele gute Geister gibt, die etwas bewegen wollen. Schnell wurde ihm klar: Wir haben gut ausgebildete Fachleute in der DDR, doch an Neuerungen fehlt es an allen Ecken. Dem Akademiker boten sich viele Chancen, obwohl es sich seine Arbeitgeber und er nicht einfach machten, er immer wieder vor die Tür gesetzt wurde.

Was blieb war die Neugier, innovative Lösungen für Probleme in der Industrie zu entwickeln. Das war die Geburtsstunde der sogenannten Erfinderschulen, an deren Gründung Thiel maßgeblichen Anteil hatte. Im Ehrenamt, nach Feierabend. Die Idee: In kleinen Gruppen diskutierten Ingenieure alltägliche Probleme mit dem Ziel, Produkte und Prozesse zu optimieren. „Uns ging es darum, Widersprüche aufzudecken und zu lösen“, sagt Thiel und erinnert an ein Beispiel: Am volkseigenen Betrieb „Berliner Werkzeugmaschinen-Fabrik Marzahn“ wurden Innenraum-Schleifautomaten zur Herstellung von Wälzlagern gebaut. Weil die Motoren immer rasanter wurden, nutzten sich die Schleifkörper schneller ab. Also mussten diese gewechselt werden. Die Lösung: Dieser Wechsel wird bei laufendem Motor vollzogen. Ein Unterfangen, das anfangs kaum praktikabel erschien. Doch die Fachleute meisterten mit Hilfe der Erfinderschule dieses Problem.
Gemeinsam mit seinen Kollegen entwickelte Thiel eine innovative Methode, die den Titel „Programm des Herausarbeitens von Erfindungsaufgaben und Lösungsansätzen“ genannt wurde. Ein Wegbegleiter Thiels, der nach der Wende nach Bayern ging, griff das auf und machte daraus die bis heute gültige „Widerspruchsorientierte Innovationsstrategie“. Darauf ist er stolz. Zumal technische Prozesse von dem philosophischen Ansatz der Dialektik begleitet werden – das Denken in gegensätzlichen Begriffen. Die Wende bedeutete für den zuletzt an der Humboldt-Universität angestellten Thiel zwar eine Zäsur, aber nicht das Ende seines Schaffens. Neben seinem wissenschaftlichen Engagement kamen gesellschaftspolitische Aktivitäten hinzu. Er organisierte Montagsdemos in Berlin und setzt sich bis heute unter anderem für Frieden, Solidarität und Bildung ein.

Die Erfinderschulen beschäftigen Thiel weiterhin, auch als 87-Jährigen. Im Eine-Welt-Laden am Storkower Markt soll ein außerschulischer Ort entstehen, der interessierten Schülern, aber auch Bürgern offensteht und von dem sich Thiel erhofft, dass die eine oder andere Erfindung ihren Ursprung in Storkow haben wird. Dafür will er die Jugend begeistern. Marcel Gäding

Zur Person: Rainer Thiel

Rainer Thiel wurde 1930 in Chemnitz geboren. Er studierte Mathematik und Philosophie. 1952 schlossen ihn sowohl die Freie Deutsche Jugend als auch die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands aus. Nach vier Jahren in der Produktion zog es ihn 1956 in die Forschung. 1968 erlang er die Lehrberechtigung für Hochschulen. In den 1960er- und 1970er-Jahren arbeitete er unter anderem im Ministerium für Wirtschaft und Technik sowie im Büro des Ministerrats der DDR. Der Witwer hat drei Kinder und fünf Enkel. Seit 1994 lebt er in Bugk.