Vor-Ort-Report: Eine ukrainische Familie konnte aus ihrer vom Krieg geprägten Heimat in den Storkower Ortsteil Kummersdorf fliehen. Doch auch dort fällt es schwer, zur Ruhe zu kommen. Von Marcel Gäding.
Das Holz hat er gespalten, einen ganzen Tag lang. Nun liegt es fein säuberlich gestapelt am Schuppen. Volodymyr gönnt sich aber keine Pause, denn jetzt will er noch eine ganze Hand voll Obstbäume pflanzen. Gut 80 Zentimeter tief sind die Löcher, die er gegraben hat. Stolz präsentiert er das Ergebnis seiner Arbeit.
Normalerweise wäre jetzt die Zeit, in der Volodymyr seinen eigenen Garten herrichten würde. Seit Jahren ist der 69-Jährige Selbstversorger, baut gemeinsam mit seiner Frau Tetiana Gemüse an und erntet sein eigenes Obst. Die beiden Rentner haben ein kleines Haus in der ostukrainischen Millionenstadt Charkiw, nicht weit vom Stadtzentrum entfernt. Doch dann kam der Krieg, wurde die Ukraine von Russland angegriffen. Anfangs harrte das Paar aus. Als dann aber eine Rakete in das Gebäude der Regionalregierung am Freiheitsplatz der zweitgrößten ukrainischen Stadt einschlug und es zerstörte, packten die Senioren hastig einige Sachen in Rucksäcke. Gemeinsam mit ihrer Tochter Inna, den Enkeln Alex und Micha sowie der Nichte Marina fuhren sie zum Bahnhof, um einen der Züge Richtung West-Ukraine zu erreichen. An der ukrainisch-polnischen Grenze stiegen sie schließlich in die Autos ihrer deutschen Verwandten. Nach einer mehr als 50 Stunden dauernden Odyssee kamen sie im Storkower Ortsteil Kummersdorf an, wo sie seither leben.
„In aller Herrgottsfrüh klingelte am 24. Februar bei uns das Telefon“, erinnert sich Sven Zimmermann. Er ist Kummersdorfer und seit zwei Jahren mit Natalia verheiratet, die aus Charkiw stammt. „Schon Tage zuvor gab es Gerüchte, dass die Russen die Ukraine angreifen werden“, sagt Natalia. Doch diese Nachricht sollte sich zunächst nicht bestätigen. Fast wähnte sich ihre Familie ein wenig in Sicherheit. Dann aber kam der Einmarsch von Putins Truppen doch. „Wir redeten auf unsere Verwandten ein, zu uns zu kommen“, sagt Sven Zimmermann. Volodymyr und Tetiana zögerten anfangs, weil sie annahmen, dass sie das alles überstehen werden. Der Krieg ist für sie in der Ostukraine schon seit Jahren präsent – seit der Annexion der Krim und seit sich russische Separatisten einen Kampf um Gebiete nahe der russischen Grenze liefern. „Der Raketeneinschlag am Freiheitsplatz aber änderte bei meinen Schwiegereltern alles“, sagt Sven Zimmermann. Es war der Anfang eines neuen Lebens in einem neuen Land.
In den ersten Wochen lebten alle sechs Verwandten bei den Zimmermanns. Inzwischen haben zumindest Schwägerin Inna, ihre beiden Jungs und Cousine Marina eine neue Bleibe bei der Storkower Wohnungsbaugesellschaft gefunden. Tetiana und Volodymyr haben sich in Kummersdorf eingerichtet. „Mein Schwiegervater hilft, wo er kann, im Garten“, berichtet Sven Zimmermann. Für den rüstigen Senior ist das eine willkommene Abwechslung. Fast täglich geht er mit seiner Frau spazieren. „Unser Sohn Vadim ist noch in Charkiw“, berichtet Volodymyr. „Wenn wir miteinander telefonieren, hört er bei uns das Zwitschern der Vögel und wir wiederum Explosionen“, ergänzt Tetiana.
In den vergangenen Wochen gab es in Charkiw immer wieder Angriffe, Tote und schwer Verletzte. Die 1,5 Millionen Einwohner zählende Stadt ist eine kulturelle Metropole und ein wichtiger Bildungsstandort dazu, wie Natalia Zimmermann sagt. Inzwischen rücken weitere russische Truppen auf die Stadt zu, von der niemand weiß, ob sie am Ende ganz in Schutt und Asche gelegt wird. „Meine Eltern telefonieren täglich mit meinem Bruder“, sagt Natalia. Mehrere Dutzend Mal am Tag nehmen Kampfjets und Raketen Anlauf auf die ostukrainische Stadt. Natalia ist wütend über diesen sinnlosen Krieg, „denn es gibt keinen Grund dafür“. Ihre Familie habe viele Verwandte und Freunde in Russland. „Wir sprechen die gemeinsame Sprache, uns verbindet eine gemeinsame Kultur.“ Man habe ein ganzes Leben daran geglaubt, Brüder zu sein, ergänzt ihr Vater.
Je länger Volodomyr über seine Erlebnisse erzählt, umso brüchiger wird seine Stimme. Tränen schießen ihm in die Augen, als er von den Bombenangriffen auf Wohnhäuser berichtet oder von den zahlreichen Minen, die von den Russen im gesamten Stadtgebiet verstreut werden und unschuldige Menschen in die Luft sprengen. „Das ist ein Genozid, ein Völkermord“, sagt er dann überzeugt. Er habe große Angst, dass der Rest seiner Familie und Bekannten nun eingekesselt werde und ihnen das gleiche Schicksal droht wie Bewohnern in Butscha nördlich von Kiew: Vergewaltigung, Misshandlung, Folterung und am Ende der Tod.
Tief beeindruckt sind die Verwandten der Zimmermanns von der Hilfsbereitschaft der Deutschen und von der unbürokratischen Unterstützung, die ihnen zuteilwird. „Uns geht es hier gut“, sagt die 71 Jahre alte Tetiana. „Aber wir vermissen unser Zuhause sehr.“
Sie alle aber wissen, dass es so schnell kein Zurück gibt. Alex und Micha gehen inzwischen auf die Europaschule, während die Erwachsenen bereits online einen Deutsch-Kursus besuchen. Für den Präsenzunterricht haben sie sich ebenfalls angemeldet. Inna, 45 Jahre alt, ist skeptisch, jemals wieder in die geliebte Heimat zurückzukehren: „Wer weiß, was uns dort erwartet. Das Leben, das wir vor dem 24. Februar geführt haben, ist Vergangenheit.“