Gasteltern gesucht – so hieß es vor über 20 Jahren in Storkow. Polnische Schüler waren damals eingeladen, an der Europaschule ihr Abitur abzulegen und damit nicht zuletzt den Bestand der Oberstufe zu sichern. Kürzlich haben sich die Absolventen und ihre Gasteltern in Storkow getroffen.
„Ich bin Julia, ich bin ein Einzelkind und ein bisschen verzogen.“ – Mit diesen Worten stellte sich Julia Kudlaszyk vor rund 20 Jahren bei ihrer Gastmutter Sylvia Klingner vor. Was würde auf die „Eltern und Kinder auf Zeit“ zukommen, wie würde man sich verständigen, wie mit Emotionen und unterschiedlichen Ansichten umgehen?
So bewegend diese Fragen zu Beginn dieses ungewöhnlichen Projektes waren so selbstverständlich erwuchsen die Antworten: Man begegnete sich eben wie Eltern und Kinder: mit Freiheiten und Pflichten, mit einem offenen Ohr für Sorgen und Heimweh und vor allem mit ganz viel Neugier für die andere Kultur, für den Alltag und fremde Traditionen.
abei war das Projekt nicht nur aus dem Anspruch geboren, den Titel „Europaschule“ zu leben, sondern diese Schule zu retten. Zu Beginn der 2000er Jahre schlugen nach und nach die Folgen der Wende zu Buche: Weniger Kinder waren geboren oder ihre Eltern waren weggezogen. Die Zukunft des Abiturs in Storkow war unsicher. Von 2002 bis 2006 waren deshalb Schüler aus polnischen Partnerschulen eingeladen, ihr Abitur in Storkow abzulegen: zwölf Schüler pro Jahrgang über fünf Jahre hinweg, insgesamt 57.
Im ersten Jahr, als sie noch nicht 18 Jahre alt waren, wurden die polnischen Schüler in Gastfamilien untergebracht. Insgesamt 33 Storkower Familien waren an dem Projekt beteiligt. Eine davon waren Sabine und Volker Boeck, die insgesamt vier Gastkinder aufgenommen und zwei davon bei dem Treffen im September wiedergesehen haben. „Ursprünglich wollten wir unseren Gastkindern mal die neue Schule zeigen, dann entstand die Idee, einfach mal alle einzuladen“, erzählt Volker Boeck. Er beauftragte seinen Ziehsohn Pawel die Kontakte zu sammeln, u.a. über Facebook.
Groß war die Freude an der langen Kaffeetafel über das Wiedersehen. „Früher habt Ihr jünger ausgesehen, aber Ihr seid auch schöner geworden“, sagte die frühere Oberstufenkoordinatorin zur Begrüßung. Nachdem viele Dankes- und Erinnungsworte ausgetauscht waren, besichtigten alle die heutige Europaschule.
Das war jedoch nicht bei allen das erste Treffen seit dem Abschied vor rund 20 Jahren. Einige Gasteltern waren inzwischen schon zu Hochzeiten oder anderen Anlässen in Polen eingeladen. Aus dem Projekt ist auch eine Städtepartnerschaft erwachsen, daran erinnerte Bürgermeisterin Cornelia Schulze-Ludwig. So etwas könne nicht von oben diktiert werden.
Wie wertvoll die Erfahrungen der Polen waren, führte Julia Kudlaszyk in ihrer Dankesrede aus: „Das Programm hat uns neue Perspektiven und Wege geöffnet“, sagte sie, „wir haben Toleranz und Offenheit für Neues gelernt, sind mutig und selbstständig geworden.“ Viele Abiturienten sind heute in Führungpositionen und mehrsprachigen Arbeitsumgebungen aktiv. Dazu hätten Gasteltern und Lehrer ihren Beitrag geleistet. Trotzdem kam 2006 das Aus: Weil vier Schüler in der Abiturstufe fehlten, mussten auch die Polen zu Hause bleiben. Ein bitteres Ende für alle Beteiligten.
Dörthe Ziemer